Dass es durchaus starke Tornados auch in Deutschland gibt, ist nichts Neues. Die sowohl räumlich als auch zeitlich eng begrenzte Häufung über Schleswig-Holstein, nicht zuletzt auch die zum Teil atemberaubenden Foto- und Videoaufnahmen, dürften dann aber doch einige überrascht oder erstaunt haben. Am späten Sonntagnachmittag (05.06.) ereignete sich bei Jübek das bemerkenswerte Naturschauspiel eines sog. "Zwillingstornados", es wirbelten also zwei Tornados in unmittelbarer Nachbarschaft zugleich. Nur wenig später trat ein Weiterer in der Nähe von Meyn auf. Am darauffolgenden Montag (06.06.) konnte schließlich in Stedesand ein Tornado beobachtet werden. Was die Tornadosichtung in Hamburg vom gestrigen Dienstag angeht, müssen noch abschließende Untersuchungen abgewartet werden.
Das relativ konzentrierte Auftreten mehrerer Tornados in wenigen Stunden und Tagen gerade über dem "hohen Norden" Deutschlands ist ein Resultat ganz spezieller meteorologischer Bedingungen. Die beobachteten Tornados über Schleswig-Holstein unterscheiden sich von den meisten anderen ihrer Art. Denn was einige vielleicht nicht wissen: Tornado ist nicht gleich Tornado! Je nachdem, welche meteorologischen Voraussetzungen gegeben sind, sorgen grundlegend verschiedene Mechanismen für die Entstehung artverwandter, aber doch hinsichtlich ihrer Physik fremder Tornadotypen.
Im Wesentlichen unterscheidet man zwischen Typ-I-Tornados und Typ-II-Tornados. Dem Typ-I-Tornado (dem "klassischen Typ") liegt eine mächtige, rotierende Gewitterwolke zugrunde. Ein komplexes Zusammenspiel zwischen der rotierenden Wolke, den rotierenden Aufwinden und Abwinden unter der Wolke kann unter bestimmten atmosphärischen Voraussetzungen zur Bildung von Luftwirbeln bis zum Erdboden, also zu teils gefährlichen Tornados, führen. Die Rotation der Gewitterwolke lässt sich dabei in vielen Fällen durch Wetterradare detektieren, was durchaus als erstes entscheidendes Signal für das mögliche Auftreten eines Tornados interpretiert werden kann. Der Typ-II-Tornado dagegen steht nicht zwangsläufig mit einer rotierenden Gewitterwolke in Verbindung. Die "Wirbelhaftigkeit" speist ein solcher Tornado im Wesentlichen aus den bodennahen Luftschichten und nicht, wie bei Typ I, aus der rotierenden Gewitterwolke. Kräftige Aufwinde unter einer Kumuluswolke (es muss nicht zwingend eine Gewitterwolke sein) "ziehen" die erdbodennahen Wirbel nach oben, wobei durch wiederum vielfältige und komplexe Prozesse die rotierende Luftsäule sichtbar werden kann.
Eine starke Temperaturabnahme mit der Höhe, z. B. durch bodennahe Aufheizung aufgrund von Sonneneinstrahlung (wichtig für die Entwicklung kräftiger Aufwinde), ausreichend Luftfeuchtigkeit und Windscherung in den unteren Luftschichten (Winde aus unterschiedlichen Richtungen) sind die essenziellen Voraussetzungen für die Entstehung der Typ-II-Tornados. Gerade in den küstennahen Regionen stellt das Zusammenströmen (oder auch konvergieren) von auflandigen und ablandigen Winden häufig die notwendige Windscherung bereit. Diese Konvergenz kann dabei sowohl über der See als auch über dem Land sein, wodurch Tornados als sog. "Waterspouts" (deutsch: Wasserhosen) oder "Landspouts" (eher unüblich: Landhosen) in Erscheinung treten.
Am vergangenen Sonntag und Montag waren die Bedingungen in einem schmalen Streifen über Schleswig-Holstein optimal für die Bildung von Landspouts. Sie entwickelten sich an einer sehr gut definierten Konvergenz unterhalb sich entwickelnder Gewitterzellen. Nicht nur die besonderen und für Typ-II-Tornados günstigen meteorologischen Begebenheiten ließen schnell auf Landspouts schließen. Dem geübten Auge fiel sofort auch die typische laminare Struktur der Luftwirbel auf. Zwar können Land- und Waterspouts nicht so stark werden wie die "klassischen" Tornados, gefährlich sind sie natürlich trotzdem - da darf man sich auch nicht von ihrem filigranen, beinah ästhetischen Aussehen täuschen lassen.
Dipl.-Met. Adrian Leyser
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 08.06.2016
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