Durch Änderungen des globalen Klimas können einige Faktoren des Erdsystems plötzlich "umkippen" und damit in einen neuen, unumkehrbaren Zustand versetzt werden. Klingt kompliziert? Wir erläutern, was es mit diesen "Kipp-Punkten" auf sich hat und geben Beispiele.
Die diesjährigen Hitzewellen ließen immer wieder die Frage entflammen: "Ist das noch ein normaler Sommer oder schon der Klimawandel?" - Diskussionen über Klima und Klimawandel hört man überall. Viele Menschen fürchten katastrophale Folgen wie extreme Dürre oder Extremniederschläge. Andere halten das für übertrieben oder streiten einen Einfluss des Menschen aufs Klima ab. Gerade als Meteorologe wird man häufig gefragt: "Sind denn 1 oder 2 Grad mehr wirklich so schlimm?", "Gab es denn nicht schon immer Änderungen des Klimas?". Was viele nicht wissen oder in Diskussionen untergeht: Es gibt sogenannte "Kipp-Punkte" - Stellschrauben im Klimasystem, die "umkippen" und dadurch das Klima irreversibel verändern können? Aber von vorne:
In vielen Bereichen des Lebens begegnen uns "lineare Systeme", d.h. es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung: Beispiel Dynamo - je stärker man in die Pedale tritt, desto heller strahlt die Lampe. Das Klimasystem ist jedoch ("leider") nicht-linear und überaus komplex, d.h. kontinuierliche Änderungen führen nicht zu einer allmählichen Reaktion, sondern auch kleine Änderungen können in anfälligen Regionen plötzliche und drastische Auswirkungen haben. Man kann das auch mit einer vollen Kaffeetasse vergleichen, die langsam über den Tischrand geschoben wird. Zunächst passiert nichts, doch plötzlich erreicht sie einen kritischen Punkt, an dem sie kippt. Im Klimasystem gibt es gleich mehrere solcher kritischer Systeme, für die gilt: Selbst wenn die Ursache danach zurückgenommen werden würde (z.B. alle Treibhausgas-Emissionen sofort gestoppt würden), würde das System Klima nicht unbedingt wieder in den alten Zustand zurückkehren, die Änderung ist also irreversibel. Wie die zerbrochene Kaffeetasse.
Wissenschaftler haben in diesem Zusammenhang verschiedene "Kipp-Punkte" oder "Kipp-Elemente" (engl. "Tipping points") ausgemacht, die für solche irreversiblen Änderungen anfällig sind - dazu gehören z.B. der Amazonas-Regenwald, der Monsun, der Golfstrom oder der antarktische Eisschild. Werden bestimmte Schwellen überschritten, bleibt z.B. der indische Monsun dauerhaft aus oder der Regenwald im Amazonas-Gebiet verschwindet vollkommen. Allgemein gesagt: Manche Effekte des Klimawandels sind ab einem gewissen Punkt (d.h. sobald beispielsweise eine Temperaturschwelle überschritten ist) nicht mehr zu stoppen und unumkehrbar.
Die Vorhersage eines "Umkippens" könnte daher dafür genutzt werden, großen Schaden zu verhindern; die Wissenschaft ist davon aber noch ein großes Stück entfernt: Man weiß nicht genau, wann ein "Umkippen" der einzelnen Elemente erfolgt. Klimawissenschaftler der Australian National University haben nun vielmehr auf die Gefahr hingewiesen, dass die Kipp-Elemente wie Dominosteine agieren können: Ein Stein fällt und stößt den nächsten um. Schon der Fall einzelner Steine hat weitreichende Auswirkungen.
10 unterschiedliche Kipp-Elemente sind in der beigefügten Grafik dargestellt. Drei Beispiele:
- Das grönländische Festlandeis ist bis zu 3 km dick und entspricht derartig viel Wasser, dass ein komplettes Abschmelzen den Meeresspiegel um sieben Meter steigen ließe. Sobald eine bestimmte globale Temperaturzunahme überschritten ist, lässt sich das vollständige Schmelzen des Eispanzers nicht mehr aufhalten. Das bedeutet freilich nicht, dass der Meeresspiegel anschließend rasant um 7 Meter steigt und Hamburger jetzt schon ans Umziehen denken müssen. Aber schon heute schwindet das grönländische Eis schneller, als vorausberechnet.
- Der Amazonas-Regenwald ist eine gewaltige Kohlenstoffsenke. Circa ein Viertel des weltweiten Kohlenstoffaustauschs zwischen Atmosphäre und Biosphäre finden dort statt, er ist quasi die "grüne Lunge" der Erde. Durch extreme Trockenheit werden die Bäume so stark angegriffen, dass sie absterben (weiter fortschreitende Abholzung verstärkt das Problem). Bei einem Umkippen des Regenwaldes etwa in eine Savannen-Vegetation könnte also kaum oder nur noch wenig CO2 gebunden werden, und enorme Mengen des Treibhausgases blieben in der Atmosphäre.
- Auch der Permafrostboden gehört zu den Kipp-Elementen. Wenn er auftaut, zersetzt sich das darin erhaltene organische Material und es wird Kohlenstoff und Methan frei. Im hohen Norden umfasst der Permafrost eine Fläche von 10 Mio. km2 (etwa der 30-fachen Fläche Deutschlands). Mehrere Hundert Milliarden Tonnen Kohlenstoff sind dort seit der letzten Eiszeit eingelagert. Der Auftauprozess schreitet derzeit viel schneller voran, als selbst die pessimistischsten wissenschaftlichen Studien annahmen. Inzwischen ist das Auftauen so weit vorangeschritten, wie es in den Szenarien des IPCC für das Jahr 2090 prognostiziert wurde.
Bei den düsteren Prognosen also resignieren und einfach hoffen, dass "nichts kippt"? Dazu sei gesagt, dass jedes (gar jedes Zehntel) Grad einen Unterschied macht. Oder um es mit den Worten von Dr. Eckhart von Hirschhausen (Scientists for Future Pressekonferenz, Link siehe unten) abzuschließen: "Viele denken, ein Grad, zwei Grad, drei Grad, das macht doch keinen Unterschied. Als Arzt kann ich Ihnen sagen, es macht einen großen Unterschied, ob ich 41 Grad oder 43 Grad Fieber habe. Das eine ist mit dem Leben vereinbar. Das andere nicht."
Dipl.-Met. Magdalena Bertelmann
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 05.09.2019
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