Ein im Januar 2021 stark geschwächter Polarwirbel kann in den kommenden Wochen auch das Wetter in Deutschland beeinflussen. Doch wie wirkt sich dieses Ereignis bei uns aus und können überhaupt Aussagen getroffen werden?
Am vergangenen Sonntag (10.01.21) wurde von Dr. Bonewitz der aktuell stark geschwächte Zustand des Polarwirbels in der Stratosphäre beschrieben sowie die Entwicklung, die zu diesem Ereignis geführt hat (siehe Verlinkung).
Der Polarwirbel ist ein umfangreiches Höhentief, das durch die in den hohen Breiten vorherrschende winterliche negative Strahlungsbilanz entsteht. Es beeinflusst mit vorherrschenden Westwinden (dem Polarnachtjet) das Wetter nicht nur in den hohen, sondern auch in den mittleren Breiten und indirekt (über die stratosphärische bzw. globale Zirkulation) auch in den Tropen. Durch diverse externe Einflüsse kann sich der Wirbel vorübergehend abschwächen, gefolgt von einer Erwärmung, die in Spitzen 30 bis 50 Grad Celsius binnen weniger Tage betragen kann, einer sog. "plötzlichen Erwärmung in der Stratosphäre (engl. sudden stratospheric warming, SSW)". Im Extremfall ist es sogar möglich, dass die klimatologisch dominanten Westwinde in Ostwinde umschlagen, was die Definition für ein ?markantes SSW? (oder major warming) darstellt.
Die Abschwächung des Polarwirbels kann sich dann in den folgenden Wochen von der Stratosphäre bis in die Troposphäre voran arbeiten und das für uns sensible Wettergeschehen nachhaltig beeinflussen.
Um es aber gleich vorwegzunehmen ? klare Aussagen können hier nicht getroffen werden, denn die Vorhersagen in diesem Themenbereich sind zumeist sehr unsicher und mit Vorsicht zu genießen. Ein Grund für die Unsicherheiten ist der, dass zwischen 1979 und 2019 gerade einmal 26 SSWs aufgetreten sind. Neben der geringen Datenmenge wurde zudem festgestellt, dass diese Ereignisse mit einer hohen Variabilität einhergingen bezüglich der Auswirkungen auf die Troposphäre, unserer Wetterschicht.
Was kann nun aber ausgesagt werden? Man kann mithilfe statistischer Auswertungen von sich einstellenden Großwetterlagen im europäisch-atlantischen Raum nach SSWs mögliche Entwicklungen oder Tendenzen abschätzen, also im Idealfall sich wiederholende typische Wettermuster zuordnen. Ob, wo und mit welcher Intensität diese eintreffen kann auch in der heutigen Zeit mit all der Technik nur vergleichsweise kurzfristig abgeschätzt werden (siehe verlinkter Mittelfristbeitrag vom 2. Januar).
Nachdem wir nun Anfang Januar bereits die erste Windumkehr hatten, soll in der zweiten Januarhälfte die nächste erfolgen, was auf jeden Fall ein markantes Ereignis für die Stratosphäre bedeutet. Es stellt sich nun die Frage, wie sich diese Entwicklung auf unser Wetter auswirken kann, wobei hier u.a. auf die Ergebnisse der unten verlinkten wissenschaftlichen Ausarbeitung von Domeisen et al. zurückgegriffen wird:
Diese Arbeit kommt zum Schluss, dass nach einem SSW aus statistischer Sicht häufig eine deutlich negative NAO (siehe DWD Lexikon) vorherrscht. Ebenso wird ausgeführt, dass sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Großwetterlage zum Zeitpunkt des SSW bestimmte Szenarien für das Wettergeschehen in der Folge u.a. in Nord- und Mitteleuropa ergeben.
Kurz zusammengefasst wird in der negativen Phase der NAO anstatt eines kräftigen Tiefdruckgebiets über Island dort ein Hochdruckgebiet erwartet, was auch die aktuellen Vorhersagen des Europäischen Wetterzentrums (ECMWF in Reading) für den weiteren Verlauf im Januar andeuten. Das hat zur Folge, dass von Westen keine ?Tiefdruckautobahn? etabliert werden kann, die beständig milde Atlantikluft zu uns führt, sondern die Tiefdruckgebiete weit nach Süden ausweichen müssen und somit potenziell sehr warme Luftmassen anzapfen können. Derweil kühlt sich die Luftmasse über Sibirien und Skandinavien zunehmend ab (u.a. das Resultat des sich abschwächenden Polarwirbels, der die Kaltluft im ?gesunden? Zustand in der Nähe des Nordpols hält und nun geschwächt das Ausfließen polarer Luftmasse nicht unterbinden kann). Weitere Informationen können dem Paper entnommen werden.
In der Tat soll sich in den kommenden Wochen der bis dato über Süd- und Ostasien vorherrschende Kaltluftkörper zunehmend nach Sibirien verlagern und auch Skandinavien erfassen - siehe dazu die dem Thema des Tages beigefügte Grafik, wo die Anomaliewerte (Abweichungen) der 2 m Temperatur von einer 20-jährigen Modellklimatologie für den 18. bis 25. Januar 2021 gezeigt werden. Erschwert wird die Vorhersage dadurch, dass sich durch die Annäherung des arktischen Kaltluftkörpers u.a. auch nach Kanada die Temperaturkontraste zwischen den Landmassen und dem Nordatlantik verstärken. Dadurch wird die Bildung kräftiger Tiefdruckgebiete angefacht. Deren Einfluss auf Europa in Form sehr milder Luftmassen und die sich nach Nordeuropa ausweitende arktische Kaltluft sind ein Nährboden für potenziell vom Klima abweichende Ereignisse, sei es in Form von besonders milden/stürmischen Phasen oder kräftigen Nord-/Ostwinden mit eisiger Kälte. Die Vergangenheit zeigte zwar, dass nach einem SSW in Nord- und Mitteleuropa kräftige Kaltlufteinbrüche häufiger auftreten, aber eine Garantie gibt es dafür nicht. Die Option für einen Abschnitt mit arktischen Luftmassen ist allerdings alleine durch die Nähe des Kaltluftkörpers gegeben, ebenso wie die Bildung markanter Luftmassengrenzen mit allen Schikanen, die das Winterwetter zu bieten hat. Das zeigt sich auch durch ein wildes Springen der Wettermodelle in der erweiterten Mittelfrist (Ende Januar) zwischen sehr warm und eisig kalt, allerdings sehr häufig mit erhöhtem Sturmpotenzial für West- und teils auch Mitteleuropa. Da die Auswirkungen eines SSW, sollten sie sich nach unten voranarbeiten, im Mittel mit rund 10 bis 15 Tagen Verspätung das Wetter in der Troposphäre beeinflussen, können somit aber eine wettertechnisch spannende zweite Januarhälfte und ein interessanter Februar bevorstehen.
Wie extrem so ein Ereignis ausfallen kann zeigte sich zum Jahreswechsel im asiatisch- nordpazifischen Sektor. Da der Polarwirbel besonders über Asien frühzeitig schwächelte, strömte dort wiederholt eisige Polarluft nach Süden und trieb den Luftdruck u.a. in der Mongolei Ende Dezember auf teils über 1090 hPa, was nach noch ausstehender Verifikation einen neuen Weltrekord darstellen würde. Nachdem die eisige Luftmasse mit Temperaturhöchstwerten von teils deutlich unter minus 40 Grad Celsius den nordwestlichen Nordpazifik erreichte, entwickelten sich zahlreiche heftige Sturmtiefs, wobei zum Jahreswechsel eines mit einem Kerndruck von geschätzt 921 hPa und auf Shemya (Alaska) gemessenen 924.8 hPa (beides Rekorde) den bisherigen Luftdruckrekord für außertropische Tiefdruckgebiete im Nordpazifik sprengte. Zudem fiel über Teilen von Japan (im Bergland und teils bis in Küstenregionen herab) massiv Schnee (z.B. Takada mit 103 cm in 24h und 187 cm in 72h, beide Werte selbst für die schneeerprobte Region ein Allzeitrekord).
So extrem muss es und wird es bei uns sicherlich nicht ablaufen, doch alleine im Vergleich zu den vergangenen ruhigen Wettermonaten wird die zunehmende Dynamik wahrscheinlich zu spüren sein. Und ist eben diese Ungewissheit nicht auch spannend - wohin wird diese Reise gehen?
Dipl.-Met. Helge Tuschy
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 14.01.2021
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