Lokale Windsysteme haben in einigen Regionen einen entscheidenden Einfluss auf das dortige Klima. Ein Beispiel hierfür ist die Land-Seewind-Zirkulation.
Die räumliche Verteilung steuernder Hoch- und Tiefdruckgebiete, die man gewöhnlich auf Wetterkarten findet, sind für die großräumigen Strömungsverhältnisse verantwortlich - sie entscheiden also, aus welcher Richtung und mit welcher Stärke der Wind weht. Aber auch lokale Gegebenheiten wie Berge und Täler oder Küstenlinien können bei bestimmten Wetterlagen ihre "eigenen" kleinräumigen Windsysteme entstehen lassen, die einen großen Einfluss auf das dortige Klima haben. Bekannte Beispiele sind der "Berg- und Talwind" (Thema des Tages vom 11. April 2022) oder die "Land-Seewind-Zirkulation", die wir heute erläutern.
Jeder Nord- und Ostseeurlauber kennt es: Während an heißen Sommertagen die zuhause Gebliebenen schwitzen, ist zur gleichen Zeit im schattigen Strandkorb von Hitze keine Spur und weniger Hartgesottene greifen im kühlen Wind sogar zum Pulli. Doch warum weht an der Küste und auf den Inseln allzu oft dieser kühle, vom Meer kommende Wind? Der Grund liegt im Seewind, einem Teil der Land-Seewind-Zirkulation.
Druckunterschiede werden durch Wind auszugleichen. Nehmen wir als Ausgangsbedingung an, dass am Morgen keine horizontalen Druckunterschiede vorliegen und daher auch kein Wind weht. In Abbildung 1 ist dies durch horizontale Isobaren (Linien gleichen Luftdrucks) verdeutlicht. Nach Sonnenaufgang wird am Vormittag die Landoberfläche und die darüber liegende Luft erwärmt, während sich die Wassertemperatur (und die Luft darüber) wegen der größeren Wärmekapazität des Meerwassers kaum ändert. Da wärmere Luft eine geringere Dichte und damit ein größeres Volumen als kältere Luft besitzt, dehnt sich die Luft über Land vertikal aus. Weil sich zwischen zwei Druckflächen weiterhin die gleiche Luftmasse befindet, werden dadurch die Isobaren gehoben (Abbildung 2). Folglich entsteht in der Höhe ein horizontaler Druckunterschied. Auf gleichem Höhenniveau (gestrichelte Linien) ist der Luftdruck über dem Land höher als über dem Meer, es entsteht also in der Höhe über dem Land ein kleinräumiges Hoch (H) und über der See ein Tief (T).
Da die Atmosphäre stets bestrebt ist, derartige Druckunterschiede abzubauen, entsteht in der Höhe eine Ausgleichsströmung vom Land Richtung Meer (grüner Pfeil in Abb. 2), also vom hohen zum tieferen Luftdruck. Der gleiche Vorgang passiert im Kleinen bei einem aufgepumpten Fahrradschlauch, bei dem man das Ventil öffnet. Die Luft entweicht vom Reifen (hoher Luftdruck) nach draußen. Die Ausgleichsströmung transportiert LuftMASSE Richtung Meer. Dadurch sammelt sich über der See die Masse an, die über Land in der Höhe abfließt. Ein Massegewinn in der Luftsäule über dem Meer bedeutet nichts Anderes als dass der Druck, der am Boden auf einem lastet, ansteigt. Im Gegenzug sinkt an Land der Druck am Boden (Abfließen der Luft in der Höhe). Im Gegensatz zur Höhe entsteht so direkt über dem Meer ein lokales Hoch und über Land ein Tief (Abbildung 3).
Am Boden passiert nun das gleiche wie zuvor in der Höhe. Es kommt eine Ausgleichströmung vom Hoch zum Tief in Gang, also von der See Richtung Land. Diesen Wind bezeichnet man seiner Herkunft nach als "Seewind", der die kühle Meeresluft Richtung Küste transportiert. Abschließend entsteht eine geschlossene Zirkulation, indem über Land aufgrund der in der Höhe abfließenden Luftmasse Luft von unten nachströmt und über der See Luft nach unten absinkt. In der Fachsprache wird diese als thermisch direkte Zirkulation bezeichnet.
In der Nacht drehen sich die Strömungsverhältnisse um. Nach Sonnenuntergang kühlt der Erdboden und die darüber liegende Luft stärker ab als über dem Meer. Die kühlere Luft schrumpft und es entsteht in der Höhe über Land ein Tief, sodass als Ausgleichströmung dort die Luft von der See Richtung Land weht. Durch diese im Vergleich zu tagsüber gegensätzlichen Masseumverteilungen bildet sich über dem Boden der sogenannte "Landwind", der Richtung See weht (Abbildung 4).
Die Land-Seewind-Zirkulation besitzt in unseren Breiten eine horizontale Ausdehnung von 10 bis 20 Kilometern, sodass schon einige Kilometer von den Küsten entfernt kaum noch eine Abkühlung zu spüren ist. Der Seewind weht meist mit Windstärke 3 bis 4 und tritt an sämtlichen Küstenverläufen auf. Auch an größeren Seen wie dem Bodensee kann man die Land-Seewind-Zirkulation beobachten. Windmessungen belegen, dass der Wind in Friedrichshafen im Sommer morgens am häufigsten aus Nord bis Nordost (also in Richtung Bodensee) und nachmittags aus Süd bis Südwest (vom See kommend) weht.
In der Realität ist die Land-Seewind-Zirkulation natürlich der großräumigen Windströmung überlagert und tritt auf, solange der großräumige Wind schwach und der Himmel nicht durch Wolkenfelder bedeckt ist. Der Seewind führt in dieser Situation dazu, dass sich der Wind bis zum Nachmittag verstärkt und Richtung Land dreht.
Nun wissen Sie, warum es an heißen Sommertagen an Nord- und Ostsee am Nachmittag und frühen Abend teils über 10, manchmal sogar bis zu 15 Grad kühler ist als im großen Rest Deutschlands. In Folge des Seewinds bleiben die Temperaturen beispielsweise auf Sylt an den meisten Tagen unter 25 Grad, 30 Grad und mehr sind die absolute Ausnahme.
Dr. rer. nat. Markus Übel (Meteorologe)
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 15.04.2022
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