Das Ostseesturmhochwasser 1872 (Teil 2/2)

Im Thema des Tages vom 12.11.2022 wurde die Entstehungsgeschichte des Ostseehochwassers von 1872 beschrieben und auf die Entwicklung der Wetterlage bis kurz vor dem katastrophalen Ereignis eingegangen. Heute widmen wir uns der weiteren Wetterentwicklung und den Folgen.

Nach mehreren Tagen mit recht glatter westlicher Strömung (Tiefdruckgebiet über Skandinavien, hoher Luftdruck über Südwesteuropa und großen Teilen Mitteleuropas) stellte sich die Wetterlage ab dem 10.11.1872 markant um. Die großräumige Strömung begann über dem europäischen Kontinent stärker zu mäandrieren (Auslenkung von Nord nach Süd) und beendete somit die anhaltende westliche Grundströmung. An den folgenden Tagen verstärkte sich diese Tendenz zur Meridionalisierung deutlich und gipfelte schließlich in einem sogenannten "Cut Off" (siehe DWD-Wetterlexikon) in der mittleren und oberen Troposphäre. Ein solches Cut-Off-Tief entkoppelt sich als eigenständiges Höhentief von der troposphärischen Grundströmung und kann dadurch in den meisten Fällen deutlich länger an einem Ort verweilen (Stationarität). In diesem Falle nistete sich das Höhentief am 11. und 12.11. über Mitteleuropa ein und verlagerte sich an den Folgetagen kaum mehr. Die unmittelbare Folge davon war, dass die kräftigen Westwinde zum Erliegen kamen und die in der nördlichen und östlichen Ostsee gestauten Wassermassen wieder langsam den Rückweg einschlugen ("Zurückschwingen").
Doch damit nicht genug. Aus Teilen einer Tiefdruckzone über Mitteleuropa entwickelten sich am 11.11. und 12.11.1872 ein kräftiges Tief über Oberitalien und dem östlichen Balkan, das unter Intensivierung nach Norden zog. Gleichzeitig baute sich über Skandinavien ein mächtiges Hochdruckgebiet auf, das in weiterer Folge als Gegenspieler des Tiefs fungierte. Aus den Reanalysedaten kann abgeleitet werden, dass das Tief ausgangs der Nacht zum 13.11.1872 einen Kerndruck (im Bereich der Lausitz) von um oder etwas unter 1000 hPa und das Hoch in seinem Schwerpunkt über Mittelschweden etwas über 1040 hPa aufgewiesen haben könnten. Damit war auf einer relativ kleinen Distanz ein großer Druckunterschied gegeben, der anhaltenden Sturm oder gar Orkan aus Ost bis Nordost über der südlichen Ostsee verursachte. Somit drehte sich aufgrund der nun inversen Bodendruckkonstellation die Windrichtung innerhalb kurzer Zeit um etwa 180 Grad.

Warum ist gerade diese Mixtur so verheerend? Führen wir uns an dieser Stelle noch einmal die Ostsee als eine Art "Badewanne" vor Augen. An den linken Badewannenrand stellen wir nun einen Ventilator auf, der die kräftige Westströmung zu Monatsbeginn simulieren soll. Das Wasser wird nun entsprechend an den rechten Rand gedrückt. Innerhalb kürzester Zeit stellen wir nun den Ventilator gedreht auf die gegenüberliegende Badewannenseite und erhöhen die Geschwindigkeit auf die höchste Stufe. Damit "schwappt" das Wasser nicht einfach nur zurück, nein, die Flutwelle wird durch die starken Winde aus der entgegengesetzten Richtung sogar noch verstärkt. Stellt man sich abschließend noch den linken Badewannenrand, auf den die Flutwelle nun zurollt, nicht als eine handelsübliche runde, breite Form, sondern als trichterförmige Bucht vor, kann man sich die Folgen des Windstaus leicht ausmalen.
Begleitet durch Schneeschauer und Gewitter begann das Wasser in der Nacht vom 12. zum 13.11. an den Küsten von Dänemark bis nach Pommern rasch und stetig zu steigen. An vielen Pegeln wurde die Marke für eine sehr schwere Sturmflut (nach heutiger Definition 2,0 m oder höher über Mittelwasser laut BSH Homepage) deutlich überschritten, in Travemünde und Lübeck gar der Wert von 3,30 bis 3,50 m erreicht. Besonders schwer getroffen waren schließlich jene Orte, deren enge Buchten die Ansammlung der Wassermassen nochmals potenzierten.

Aus den vielen überlieferten, teils dramatischen Berichten und eindrücklichen Tagebucheinträgen (siehe Link 3 und 4) kann abgeleitet werden, dass jenes Ereignis zwar nicht völlig überraschend kam (die Bevölkerung wusste aus ihrer Erfahrung um die Problematik eines Hochwassers bei rascher Winddrehung), doch in seiner Heftigkeit und Schnelligkeit die meisten massiv überforderte. So fanden viele Menschen und Tiere den Tod in den Wassermassen. Die Rede ist von 271 Toten, mehr als 15000 Obdachlosen und 10000 Viehkadavern. Der Wiederaufbau dauerte viele Jahre. Von den Ausmaßen dieser Katastrophe zeugen noch historische Hochwassermarken an den Gebäuden sowie die Einträge in den Chroniken. Zu diesem runden Jahrestag gibt es außerdem an einigen Orten Ausstellungen zu den damaligen Ereignissen.

Sie sehen: Sturmfluten an der Ostsee können tückisch und verheerend sein. Durch diese "Rückschwappeffekte" kann es sogar passieren, dass schwere Sturmfluten vor Ort selbst bei relativ windschwachen Verhältnissen und damit für viele umso überraschender auftreten. Zudem kann die brenzlige Situation bei stabilen Wetterlagen durchaus auch mehrere Tage anhalten, was zu einer dauerhaften Belastung der Deiche, Stauwälle und Kliffs führt. Im Gegensatz dazu läuft das Wasser an der Nordsee in der Regel zwar höher auf, durch die Gezeiten aber spätestens nach 6 Stunden auch wieder ab.
Mit den heutigen Möglichkeiten der atmosphärischen Prognostik und der modellierten Wasserstandsvorhersage kann ein solches Ereignis mit hoher Wahrscheinlichkeit mehrere Tage im Voraus erkannt werden. Zudem sind während der letzten Jahrzehnte viele Milliarden in die Küstenschutzmaßnahmen investiert worden, sodass berechtige Hoffnung besteht, dass ein Hochwasser solchen Ausmaßes etwas glimpflicher verläuft - obschon die Bevölkerungsdichte an der Ostseeküste enorm gestiegen ist.


Dipl.-Met. Robert Hausen, Mag.rer.nat. Florian Bilgeri Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 13.11.2022

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